Es ist fast unwirklich, wieder hier zu stehen. Als wäre ich wieder zehn Jahre alt und würde mich über die Wärme des Frühlings freuen, über die gleißend hellen Sonnenstrahlen und die Zeit draußen mit den Nachbarskindern. Der Boden ist trocken und an manchen Stellen zu großen Schollen aufgeplatzt, flach wachsende Pflanzen krallen sich darin fest. Auf der Brachfläche hinter dem Friedhof strecken leuchtend rote Klatschmohnblüten und allerhand Gräser ihre Köpfe Richtung Licht.
Ein kleiner Hügel, den Soldaten einst für ihre Schießübungen nutzten, wir Kinder rodelten im Winter von ihm hinab. Und die weißen Kreuze des deutschen Friedhofs, die uns stumm ihre Rücken zuwenden. Dazwischen die Kaule, kleinere und größere Mulden im Boden, vor langer Zeit entstanden, als die Menschen tonhaltige Erde für die Ziegel zum Hausbau hier aushoben, und die sich bei Regen immer mit Wasser füllen. Sie stehen voller Schilf, und aus ihnen ertönt die Melodie meiner Kindheit – das Quaken von Fröschen, das Gezwitscher junger Vögel, das Summen einer Vielzahl von Insekten. Erinnerungen und Wahrnehmungen legen sich nahezu deckungsgleich übereinander.
Ein Besuch in Semiklosch, in meiner Heimatstadt Sânnicolau Mare (Großsanktnikolaus), ist für mich immer auch ein Besuch in meiner Vergangenheit, wie sie in meinem Gedächtnis sicherlich nicht ganz wahrheitsgetreu abgespeichert ist. Durch die mittlerweile dank der Aufnahme Rumäniens in den Schengen-Raum völlig verwaiste Grenzstation bei Tschanad gelangen wir in meine alte Heimat, aber schon vorher, in Ungarn, breitet sich die schier unendliche Weite der Banater Tiefebene um uns herum aus.
Wie eigentlich jedes Mal, wenn wir hier sind, gehen wir zu Fuß das Semiklosch ab, das ich noch aus meiner Kindheit kenne. Meine Erinnerung beginnt in der heutigen Fußgängerzone, damals noch ohne Pizzabäcker und Eisbuden, dafür mit Geschäften, in denen die Hälfte der Regale leer und die andere Hälfte mit einheitlich dunklen Kleidungsstücken gefüllt war.
Vor dem Nákó-Kastell, in dem dieser Tage die Bevölkerung, oder zumindest etwas mehr als 30 Prozent von ihnen, einen Mathematiker und aktuellen Bürgermeister von Bukarest und einen Rechtsextremen in die Stichwahl um das Präsidentenamt gebracht hat, stehen, von Ostern übriggeblieben, vier überdimensionale, in rumänische Tracht gekleidete Hasen.
Ihnen gegenüber schaut Emilia Lungu-Puhallo, ein Geschichtsbuch in der Hand, mit festem Blick Richtung Rathaus, auf all die Herren, denen Gedenkstatuen davor die Ehre erweisen. In Sânnicolau Mare geboren, gründete die Lehrerin 1872 hier die erste Frauenorganisation, und zwei Jahre später im nahen Ort Izvin die erste Schule für Mädchen in der Region.
Eine außergewöhnliche Frau muss auch Berta Nákó gewesen sein, die gemeinsam mit ihrem Mann im Jahre 1864 das heutige Kastell auf der Grundlage eines bereits bestehenden erbauen ließ, vor dem ihrer beider Statuen heute stehen. Wenn man den Geschichten glauben möchte, war sie eine Roma, und der junge Graf Coloman (Kálmán) Nákó völlig vernarrt in sie. Die beiden brannten durch, und Colomans Vater, der keine Roma als Schwiegertochter haben wollte, hinterher. Bei der Verfolgungsjagd soll er seine Pferde so geschunden haben, dass sie am Ziel tot umfielen. Aber alles vergebens, denn die Heirat war bereits vollzogen. Berta war nicht nur eine hervorragende Pianistin, die eine Zigeunerkapelle um sich versammelte, sondern auch eine in Wien studierte Malerin; bis heute hängt eines ihrer Bilder in der katholischen Kirche von Semiklosch.
Vom Nákó-Kastell aus ist es gar nicht weit bis zu dieser Kirche mit ihrer seit meiner Kindheit gelbgetünchten Fassade. Davor steht heute ein anderer Graf Nákó, Alexander II., der die Kirche erbaut hat. Bis heute prägt also diese ungarische Adelsfamilie zumindest im Zentrum das Stadtbild von Semiklosch.
Wir gehen weiter Richtung ehemalige Deutschgemeinde und kommen an meiner alten Schule vorbei. Seit einem dreiviertel Jahr wird sie nun schon renoviert, der ganze Putz ist ab, auch in den Innenräumen soll alles neu gemacht werden mit EU-Geldern. Aber so richtig wollen die Arbeiten nicht vorangehen, Firmen gehen pleite, Material fehlt. Als sich in den Klassenzimmern Schimmel zu bilden begann und zeitweise das Wasser die Wände hinunterlief, wurde der Unterricht vor ein paar Wochen in andere Gebäude verlegt. Was von meiner Schule wohl noch übrig sein wird, wenn wir nächstes Mal hier sind?
Von hier aus folgen wir meinem alten Schulweg durch die Gassen der Deutschgemeinde. Vorbei an den typischen Banater Schwabenhäusern, teils wieder schön hergerichtet, teils halb verfallen, vorbei am grünen, ehemals roten Tor der „Cooperativă“, einer Art VEB in Zeiten der sozialistischen Diktatur, vorbei an den Höfen meiner Klassenkameraden. Die Avram Iancu-Straße, früher die Grenzgasse genannt, ist ein Meer aus Schwertlilien in verschiedenen Farben.
Und dann stehen wir in der Kesselgass, auf Rumänisch Strada Popa Șapcă, in der Straße meiner Kindheit. Wie ein grüner Tunnel zieht sich der gepflasterte Fußweg hinein. Wie oft meine Schwester und ich diesen Weg gegangen sind, heim von der Schule. Die Häuser unserer Freundinnen von damals, die Ecken, an denen wir gespielt haben. In einer Seitengasse wurde 1881 der berühmte ungarische Komponist Béla Bartók geboren.
Zum ersten Mal, seit wir 1989 ausgewandert sind, kommen wir diesmal ins Gespräch mit der Roma-Familie, die unser Haus zugeteilt bekommen hatte, nachdem wir es gezwungenermaßen für einen Spottpreis an den rumänischen Staat verkauft hatten. Der jetzige Besitzer erinnert sich noch an mich als Kind und vor allem an meinen Großvater. Er lädt uns in den Hof ein, zeigt uns, wie er unseren alten Kartoffelkeller in eine Art Partyraum umgebaut hat. Unser altes Haus ist kaum wiederzuerkennen, aber wenigstens nicht verfallen. Überall Pferdedarstellungen, die Familie hält auch ein paar der Tiere hinter dem Haus. All unsere Bäume sind verschwunden, die großen Fichten aus meiner Kindheit, der Nussbaum, die Pfirsich-, Birn- und Kirschbäume. Auch der alte Maulbeerbaum mit den süßen Früchten steht nicht mehr; seine Blätter schafften meine Schwester und ich als Schülerinnen hie und da tütenweise in die Schule, um die Seidenraupen zu füttern, die dort nach staatlicher Anordnung gezüchtet wurden. Es ist noch unser Haus und ist es doch nicht. Ich bin fast froh, dass sie uns nicht hineinbitten, ich will nicht, dass meine Erinnerungen von der Realität überlagert werden. Als wir uns verabschieden, bietet mir eine der Frauen, die im Hof sitzen, das Haus zum Verkauf an. Ich bin mir nicht sicher, wie ernst sie das meint, und ich hätte es gerne zurück, aber das Haus meiner Kindheit, nicht das, was daraus geworden ist.
Tags darauf machen wir eine kleine Rundreise durch den Winkel des Banats, in dem meine Familie am meisten verwurzelt ist. All die deutschen Namen, die ich noch gut aus meiner Kindheit kenne, wenn meine Eltern von unseren Verwandten oder Freunden dort sprachen oder mein Großvater von seinen geschäftlichen Reisen dorthin.
In Hatzfeld (Jimbolia) wurde meine Urgroßmutter geboren, von der ich nicht nur manche Gesichtszüge geerbt habe, sondern die auch bis zu ihrem Tod einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben war. Eine Zeit lang lebte mein Vater hier in einem der Wohnblocks, und als wir vor der verfallenen Stadtbibliothek stehen, stelle ich mir vor, wie er dort ein- und ausging und seine Philosophiebücher studierte. Auf dem zentralen Platz von Hatzfeld steht eine Statue des Heiligen Florian, der den Brand in einem Haus löscht; der Schutzpatron gegen das Feuer und der Feuerwehrleute ist auch Stadtheiliger und auf dem Wappen von Jimbolia zu finden.
Unweit von Hatzfeld wurde einer der bedeutendsten österreichischen Dichter des 19. Jahrhunderts geboren: Nikolaus Lenau. In seiner Heimatstadt, die bis 1926 Tschadat hieß und dann ihm zu Ehren in Lenauheim umgetauft wurde, sitzt er heute träumerisch in einer kleinen Grünanlage und lässt sich etwas von einer Muse zuflüstern, die ihm über die Schulter schaut. Seine berühmten „Schilflieder“ gelten, unter anderen, heute als wichtige Werke der Spätromantik.
In Tschanad, wo mein Vater geboren wurde, beenden wir unsere kurze Rundreise. Neben der Kirche, an deren Fassade der Putz in immer größeren Stücken abplatzt, treffen wir ein Ehepaar. Die Frau wurde in einem der Häuser direkt neben der Kirche geboren und kannte meine Großeltern, die nur etwa hundert Meter weiter weg wohnten, sehr gut, ebenso meinen Vater und meinen Onkel. Und ihr Mann, der auch aus Sânnicolau Mare stammt, erinnert sich noch gut daran, wie meine Mutter immer morgens auf dem Weg zu ihrer Arbeit an der Schule an seinem Haus vorbeikam. Auch solche Begegnungen sind Teil meines Heimatgefühls, fügen sich ein in die Sammlung von Erinnerungen, Menschen und Orten, die ich in meinem Inneren wie einen Schatz bewahre.
An unserem vorläufig letzten Tag in Semiklosch überqueren wir die Brücke über die Aranca, in der die ganze Nacht ein wunderbares Froschkonzert stattgefunden hatte, das wir durch das offene Fenster unseres Hotels hören konnten, und besuchen den Wochenmarkt. An der gleichen Stelle gab es früher, zu sozialistischer Zeit, einen kleinen Schwarzmarkt mit eigentlich verbotenen Waren aus Serbien – ich erinnere mich noch sehr gut an die kleinen Packungen mit Nuss-Nougat-Creme, die wir immer von dort bekamen. Auch heute ist hier so vieles aus meiner Kindheit zu finden, sauer eingelegte Gurken, Halva aus Sonnenblumenkernen, Honig in der Wabe. Und es duftet wie damals, nach mici, die sich auf den Grillrosten und den Papptellern von alten Frauen mit dunklen Kopftüchern und Männern mit wettergegerbter Haut stapeln, und nach Langosch, den meine Uroma so gut zubereiten konnte. Danach sitzen wir mit den fettigen Hefegebäck-Fladen in der Hand auf einer Bank an der Aranca, und wenn ich die Augen schließe, ist es fast so, als würde meine Urgroßmutter den Schafskäse darüber reiben und mir mit einem Lächeln im Gesicht beim Essen zuschauen.