"Neapel ist tausend Farben...", so sang der Bluesgitarrist Pino Daniele über seine Heimatstadt. Mit vielen Wunsch- und Klischeevorstellungen im Gepäck machen wir uns auf in die süditalienische Metropole.
Der kleine Innenhof ist ähnlich vollgerümpelt wie unser Keller daheim und irgendwo in einem der oberen Stockwerke bellt schon den ganzen Morgen ein Hund. Eine unansehnliche Tür, die nicht vollständig zu schließen scheint, führt in eine enge, kopfsteingepflasterte Gasse. Als wir hinaustreten, muss ich für einen kurzen Moment stehenbleiben und diese ganze Fülle in mich aufnehmen. Schwatzende Menschen schlendern vorbei, manche wild gestikulierend und laut, andere ähnlich überfordert wie ich herumschauend, penetrant hupende Roller zwängen sich dazwischen durch, und überall kleine Geschäfte und Stände, die ihre teils kitschig bunten, teils nostalgischen Waren feilbieten. Der Geruch von frischem Espresso aus dem kleinen Café gegenüber, dessen Auslage mit gefüllten Croissants und sfogliatelle lockt, vermischt sich mit Parfum und dem unschönen Gestank von Großstadtgassen. Über unseren Köpfen ein stockwerkehohes Wirrwarr an Stromkabeln, Antennen und Herzen mit Beschriftungen in einer Sprache, die mir irgendwie bekannt vorkommt, die ich aber nicht verstehe. Und so viele Wäscheleinen - genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ein überwältigender erster Eindruck. Schmutzig, grell, staubig, laut. Das ist also Neapel.
Dieses Chaos, diese Unmenge an Eindrücken überfordern und begeistern mich, alles gleichzeitig. Die historische Altstadt, die heute zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, ist für die nächsten Tage unser Viertel.
Die Wände der schönen, teils maroden, aneinander klebenden Gebäude hier sind voller Graffiti, Aufkleber und Paste-ups – eine Streetart-Galerie, wie ich sie noch nie zu Gesicht bekommen habe. Ständig bleiben wir stehen, um noch eine Ecke, noch eine Wand mit der Kamera festzuhalten.
Häufig zu sehen sind das ikonische Gesicht der jungen Sophia Loren und das kantige Konterfei des neapolitanischen Komikers Totò. Und überall Diego Maradona, der, mit Glorienschein und Engelsflügeln ausgestattet, wie ein Heiliger verehrt wird.
Ein sehr häufiges Motiv in den Altstadtgassen von Neapel ist Pulcinella. Diese sehr alte Figur des neapolitanischen Volkstheaters stellte oft einen listigen, aber auch tölpelhaften und gefräßigen Diener in den Stücken dar. Großartig, wie er auf einem Wandgemälde, den Pizzaschieber in einer Hand, Ronald McDonald mit der anderen ordentlich eine reinhaut!
Und dann ist da noch die Ciaciona, erdacht von Alfonso De Angelis, alias Trallallà, unten im Bild rechts - eine üppige, feministische Version der Parthenope, jener Sirene, die sich, nachdem ihr Versuch, Odysseus zu verführen, fehlschlug, ins Meer stürzte und deren toter Körper genau an der Stelle an Land geschwemmt wurde, wo heute Neapel liegt.
Und manchmal erhebt sich inmitten dieser vollgesprühten Häuserzeilen mit ihrem abblätternden Putz eine alte Kirche. Steinerne Heilige und Engel schauen auf das Treiben in den Gassen herunter; manche dieser Gotteshäuser sind geöffnet, andere mit schweren Eisenketten und dicken Schlössern verrammelt. Dazu überall Schreine mit Heiligenfiguren und Bildern geliebter Menschen. Und gleich nebenan, manchmal nahtlos aneinandergebaut, wird in einer kleinen Pizzeria die typisch neapolitanische Pizza mit dem fluffigen Rand und dem hauchdünnen Boden serviert. Das Religiöse und das Weltliche verschmelzen untrennbar miteinander.
Beeindruckend erhebt sich die helle Fassade der Kathedrale von Neapel aus dem Getümmel. Im Laufe der Jahrhunderte immer wieder umgebaut, ist sie heute eine interessante Mischung verschiedener Baustile. In Erinnerung bleibt vor allem die Kassettendecke des Langhauses und die kleine Seitenkapelle, welche San Gennaro, dem Hauptpatron Neapels, geweiht ist, mit ihren dunklen Bronzefiguren. Jedes Jahr findet hier die Zeremonie des Blutwunders statt, bei der das in einer Phiole aufbewahrte Blut des Heiligen vom festen in den flüssigen Zustand übergehen soll - andernfalls wird ein schlechtes Jahr für Neapel folgen.
Wer sein Nervenkostüm schonen möchte, ist in Neapel besser nicht mit dem Auto unterwegs. Zudem ist die Metro der Stadt schon selbst einen Besuch wert, sind doch die meisten Stationen von Künstlern gestaltet worden. An der Piazza Garibaldi, direkt beim Hauptbahnhof, führen lange, freihängende Rolltreppen in die Tiefe, die uns an den Escher-Tresor aus der Serie „Warehouse 13“ erinnern.
Wir nehmen die Metro zur Haltestelle Municipio und stehen dort auf einmal in einer ganz anderen Stadt. Vor uns liegen unwirklich große Fährschiffe vor Anker, alles ist offen und weitläufig. Und als ich mich umdrehe, schaue ich direkt auf den Vomero-Hügel mit dem Castel Sant'Elmo und dem Klosterkomplex Certosa di San Martino. Neapel haut mich schon wieder um.
Nicht weit vom Fährhafen entfernt steht das wuchtige Castel Nuovo aus dem 13. Jahrhundert mit seinen mächtigen Rundtürmen und dem fast weißen Triumphbogen als Eingangstor. Von hier aus stehen wir nach einem kurzen Fußmarsch auf der Piazza del Plebiscito, einem weitläufigen Platz zwischen dem Palazzo Reale, von dessen Fassade die bedeutendsten Herrscher des Königreichs Neapel, darunter Friedrich II., streng auf uns herunterschauen, und der Kirche San Francesco di Paola, die mich von ihrer Anlage her an den Petersdom erinnert.
Der Stauferkönig Friedrich II. war es, der im Jahre 1224 die Universität Neapel gegründet hat, die heute seinen Namen trägt und eine der größten in Italien ist. Unter vielen anderen war Thomas von Aquin einer der berühmtesten Studenten und später auch Lehrenden dieser Universität.
Ende des 19. Jahrhunderts entstand zur Regierungszeit von König Umberto I. eine beeindruckende Einkaufspassage, die nach ihm benannt wurde. Über unserem Köpfen Jugendstil-Engel und Glaskuppeln, unter unseren Füßen ein schöner Mosaikboden.
Der Dichter Vergil, den viele seiner Zeitgenossen für einen mächtigen Zauberer hielten, soll einst ein Ei am Fundament der ältesten Burg Neapels platziert haben. Diese heißt heute Castel dell‘ Ovo, also Eierfestung. Sollte dieses Ei zerstört werden, dann würde dieses Schicksal auch Neapel ereilen. Hier am Hafen ist Neapel so ganz anders als im Centro Storico. Der Blick schweift weit über das blaue Wasser der Bucht von Neapel, auf dem Fähren zu den nahen Inseln unterwegs sind. Auf der Uferpromenade albert eine Hochzeitsgesellschaft herum und ihre Photographen versuchen, die gute Stimmung auf Bilder zu bannen. Elegante, große Hotels stehen hier neben Restaurants und Cafés mit sonnigen Terrassen, in denen man seinen Espresso und ein paar Kugeln Eis genießen kann.
Östlich der Stadt ragt unverkennbar der Vesuv in den blauen Himmel, ein heute noch aktiver Vulkan, der momentan im Dämmerschlaf liegt. Im Jahre 79 n.Chr. allerdings gab es einen verheerenden Ausbruch, bei dem die Caldera entstand und der einige nahe, damals blühende römische Städte, wie Pompeji und Herculaneum, unter Lava und Vulkanasche begrub. Dabei wurden diese Siedlungen konserviert; seit dem 18. Jahrhundert hat man diese Zeugnisse der Antike in mühevoller Kleinarbeit freigelegt und entdeckt hier auch heute noch neue Details und Kunstwerke.
Zunächst ist es gar nicht so leicht, sich vom Zauber Pompejis mitreißen zu lassen, dazu sind hier einfach zu viele Besucher. Der Zugang ist bereits limitiert, aber dennoch wimmeln die mit groben Steinen gepflasterten Gassen vor Schulklassen und Selfiesticks und Geschwätz. Ob an Festtagen auf dem Forum genauso viel los war wie heute Vormittag? Als wir dann aber immer die Straßen nehmen, die menschenleer sind, und uns viel Zeit lassen, entdecken wir überall wunderbare Details. Hier ein Mosaik mit Tierdarstellungen, da eine gut erhaltene Villa mit bunten Fresken an den Wänden, hier eine Taverne mit großen, in die steinerne Theke eingelassene Amphoren, da ein Freudenhaus mit sehr expliziten Darstellungen als Wandschmuck.
Sogar einen Bären aus Mosaiksteinchen entdecken wir.
Pompeji ist viel größer als ich dachte, und es gibt viel mehr zu entdecken, als man in einem halben Tag anschauen kann. Man bekommt eine Ahnung davon, was für ein beeindruckender Ort dies einst gewesen sein muss – und was für ein jähes Ende er fand. Einige der Menschen, die von dem pyroklastischen Strom überrascht wurden, der den Berg hinunterraste, haben Hohlräume hinterlassen, deren Abgüsse die Einwohner von Pompeji in ihren letzten Momenten zeigen, manche kämpfend, manche wie friedlich schlafend.
Weitere, teils sehr beeindruckende Überreste der römischen Siedlungen Pompeji und Herculaneum finden wir im Archäologischen Nationalmuseum. Das berühmte Alexandermosaik aus dem Haus des Fauns in Pompeji wird zwar gerade restauriert, aber dafür zeugen viele andere, unglaublich detaillierte, kleinteilige Mosaikarbeiten von der Kunstfertigkeit der Menschen jener Zeit.
In Erinnerung bleiben auch die monumentalen römischen und griechischen Marmorskulpturen, wie der über drei Meter hohe Herkules Farnese.
Eine der schönsten Hallen des Museums beherbergte früher eine Bibliothek. In der südwestlichen Ecke des Saales zeigt eine in den Boden eingelassene Sonnenuhr bis heute die Zeit mithilfe eines Sonennstrahls an, der durch ein kleines Loch in der Decke fällt.
Unser Kleinbus tuckert am nächsten Morgen die Serpentinen an der Flanke des Vesuvs hoch. Sein letzter Ausbruch im Jahre 1944, der damals von den Alliierten in beeindruckenden Bildern und Videos festgehalten wurde, ist lange her, und über Vulkangestein und Asche sind Bäume und Büsche gewachsen. Die letzten Kilometer zum Kraterrand gehen wir zu Fuß, wie viele schwitzende Schüler und keuchende Besucher neben uns. Der einst so bedrohliche Vulkan ist heute eine Touristenattraktion wie viele andere. Dennoch ist es etwas Besonderes, am Rand der Caldera zu stehen und hineinzuschauen in den Schlund, der manchmal Tonnen glühender Lava ausspuckt und Explosionen verursacht hat, die Gesteinsbrocken und Asche bis in die Stratosphäre geschleudert haben. Heute ist er still, nur ein paar dünne Rauschsäulen lassen erkennen, was in seinem Inneren vor sich geht.
In den letzten Monaten hat ein anderer Vulkan, der ebenfalls bei Neapel liegt, gelegentlich durch mittelstarke Erdbeben auf sich aufmerksam gemacht. Die Phlegräischen Felder westlich der Stadt werden als Supervulkan eingestuft, der zuletzt im 16. Jahrhundert einen Ausbruch gezeigt hat, aber immer wieder für Erdrutsche, Beben und andere seismische Aktivitäten sorgt. Im Falle eines Ausbruchs wäre Pozzuoli, eine ruhige Vorstadt von Neapel, mit am stärksten betroffen. Das Macellum am Hafen, ein antikes Marktgelände, zeigt anhand der Muschelreste auf seinen Säulen, wie stark sich der Boden hier teilweise innerhalb kurzer Zeit gehoben und gesenkt hat. Auch das ist Neapel, eine verschlafene Vorstadt aus bunten, ineinander verschachtelten Häusern, in die sich nur wenig Besucher verirren.
Es scheint kaum möglich, all die verschiedenen Eindrücke der letzten Tage von Neapel zu einem ganzen Bild dieser besonderen Stadt zusammenzufassen - aber es ist dennoch einen Versuch wert. Malerische Stiegen führen hinauf auf den Vomero-Hügel; auch wenn der Aufstieg etwas anstrengt, ist er gleichzeitig erholsam, entkommt man hier doch den vielen Menschen, Autos und hupenden Rollern der Unterstadt. Eine Neapolitanerin bietet frisch gepresste Zitronenlimonade am Wegrand an, herrlich erfrischend rinnt sie unsere durstigen Kehlen hinab. Oben das sandfarbene Castel Sant'Elmo aus dem 14. Jahrhundert und daneben die weiße Klosteranlage Certosa di San Martino. Aber diese beiden Gebäude können keineswegs mithalten mit der umwerfenden Aussicht, die sich von hier auf Neapel bietet. Alle Facetten der Stadt verschmelzen zu einem bunten, außergewöhnlichen Ganzen, das sich an den Golf von Neapel schmiegt, im Vordergrund die grünen Gärten am Hang des Vomero voller Feigenbäume und Zitrusfrüchte, im Hintergrund unverkennbar die Caldera des Vesuvs.
Wenn ich heute an Neapel denke, da habe ich oft dieses Bild vor Augen: Eine neapolitanische Straße mitten im Umbau, hinter einem Bauzaun lärmen und stauben Presslufthammer und Straßenarbeiter. Der Bürgersteig ist einzig begehbar, eine Schlange aus Menschen eilt vorbei, das Handy am Ohr. Und da, zwischen Baulärm und Fußgängerfluss, hat ein kleines Café ein paar Tische aufgestellt. Zwei alte Herren sitzen einander gegenüber, vor sich einen Espresso, und unterhalten sich blendend, gestikulieren wild, lachen herzhaft. Alles Unschöne und Lärmende scheinen sie auszublenden, die gestressten Menschen, die staubige Luft, den Schmutz auf dem Bürgersteig – in diesen Minuten existiert nur ihr Gespräch.
Das können auch viele Rumänen sehr gut, sich inmitten von Lärm und Chaos auf das Schöne und Machbare konzentrieren. Ihnen wollen wir als nächstes einen längeren Besuch abstatten.