Allmählich schwillt die vollkommene Ruhe zu einem ohrenbetäubenden Rauschen in unseren Ohren an. Die Birken stehen unbewegt in der Windstille, die Seerosen schlafen auf der glatten Wasseroberfläche, die wie ein Spiegel Baum, Schilf und Himmel einfängt. Die Sonne versteckt sich bereits hinter den Wäldern und ihr Restlicht taucht die Landschaft in warme Farben. Aufgeschreckt erheben sich drei Krähen in die Luft, ihr Krächzen reißt uns aus unseren Gedanken. Es ist stickig und heiß in unserem Unterstand, in dem wir seit Stunden ausharren und alles beobachten – abwechselnd durch den schmalen Sehschlitz und unsere Teleobjektive. Ein alter Kinderreim kommt mir in den Sinn.
»Vielfraß nennt man dieses Tier
Wegen seiner Freßbegier!«
Auf was für ein Tier warten wir wohl hier in den finnischen Wälder, das schon für die Kleinsten mit solchen Worten charakterisiert wird?
Der Vielfraß hat keine gute Presse, und wenn wir zurück in die Geschichte blicken, dann können wir mit Fug und Recht behaupten, dass er noch nie viele Fürsprecher hatte. Durchstöbern wir alte Aufzeichnungen und lesen in längst überholten Tierlexika, dann stoßen wir auf viele blumige Geschichten und wenig Wissen über diese Tiere. Eine kleine Abbildung in der carta marina von 1539 zeigt den Vielfraß als ein Tier mit unstillbarem Hunger, das sich zwischen zwei Bäumen hindurchzwängt, um seine vollgefressenen Innereien zu leeren, nur um sich gleich wieder seiner Fresssucht hingeben zu können. Die Knochen und Gerippe zu seinen Füßen erzählen zusätzlich von seiner Gier. Und auch der lateinische Name des Vielfraßes, Gulo gulo, bezieht sich auf die nordische Sagengestalt Gulon, die als Symbol für maßlose Völlerei verstanden werden kann. Mit dem Körper eines Hundes, dem Kopf und den Ohren einer Katze und dem Schwanz eines Fuchses ist die Kreatur eine bunte Mischung verschiedener Lebewesen.
Die Dämmerung schreitet voran, die Helligkeit schwindet und die Stunden mit dem schönsten und warmen Licht der tiefstehenden Sonne sind längst vorüber. In solchen Momenten wünschen wir uns immer wieder aufs Neue, dass ein Bär oder Vielfraß vor unserem Unterstand Stellung bezieht und für unsere Kameras posiert. Und es sind diese Momente, die uns stets daran erinnern – sollten wir es je einmal vergessen – dass es nicht selbstverständlich ist, dass überhaupt etwas passiert und sich ein Tier blicken lässt. Das macht einen Teil des Reizes aus und ist das Besondere an der Tierfotografie – alles, was geschieht, ist ein unvorhergesehenes Geschenk und nicht planbares Glück. Und so taucht nach Stunden des Wartens dann doch ein Vielfraß am gegenüberliegenden Ufer des kleinen Sees auf. Rastlos streift er durch das Gras und zwischen Bäumen und Beerensträuchern hindurch, die ihn teilweise überragen, sodass er immer wieder vollständig vor unseren Blicken verschwindet. Von Zeit zu Zeit bleibt er stehen, um für einen kurzen Moment seine Nase in die Höhe zu recken, bevor er im nächsten Augenblick auch schon wieder losrennt. Er scheint in permanenter Bewegung zu sein. Vor allem in den Stunden des Zwielichts, seiner bevorzugten Zeit, um auf Beutezug zu gehen, macht seine scheinbare Ruhelosigkeit es zu einer großen Herausforderung, gute Bilder von ihm zu machen. Immer wieder wechselt er abrupt seinen Kurs, stellt sich auf die Hinterbeine, um sich im hohen Gras einen besseren Überblick zu verschaffen. Dann klettert er auf einen Baum, um sich des dort hinterlegten Futters zu bemächtigen.
Von früheren Reisen berichteten wir bereits von der Anfütterung von Bären und dass sich die Herangehensweise dabei stark von Anbieter zu Anbieter unterscheidet. Bei den Vielfraßen verhält es sich etwas anders. Sie sind mittlerweile angewiesen auf das zusätzliche Futter. Früher, als das natürliche Gefüge irgendwie im Gleichgewicht war, sich selbst reguliert hat und es noch mehr von den großen Raubtieren wie Bären und Wölfe gab, fiel auch genügend Nahrung für den sich hauptsächlich von Aas ernährenden Vielfraß ab. Aber dieses Gleichgewicht existiert schon lange nicht mehr, der Mensch hat es nachhaltig gestört, und wir können uns nicht vorstellen, dass sich daran je wieder etwas ändern wird.
Während unsere Augen auf dem Vielfraß förmlich kleben, schnappt er sich die Fleischbrocken und frisst nicht etwa gleich vor Ort, vielmehr verschwindet er mit ihnen im Wald. Kurze Zeit später taucht er erneut auf, holt sich das nächste Stück Beute und macht sich abermals damit auf und davon. Vielfraße legen Verstecke an, in denen sie ihre Nahrung für später lagern. Das kann unter einem Felsen sein, in einem Bachbett oder in einer Schneeverwehung. Um diese Jahreszeit ist es auch wahrscheinlich, dass die Mütter das Futter zu ihrem hungrigen, in einem Unterschlupf wartenden Nachwuchs bringen.
Von ihrem Äußeren her erinnert die größte Marderart Europas ein wenig an einen kleinen Bären. Aber nur auf den ersten Blick. Der Körperbau des auch Bärenmarder genannten Vielfraßes ist sehr viel gedrungener, die Ohren sind klein und sein Schwanz lang und buschig. Das Fell ist meist dunkelbraun, zu den Seiten häufig etwas heller, was zu einem markanten dunklen Fleck auf ihrem Rücken führt. Anders als Bären halten Vielfraße keine Winterruhe und sind auch in der kalten Jahreszeit in der Lage, genügend Nahrung zum Überleben zu finden. Von den großen Raubtieren Nordeuropas sind sie die kleinsten und vermutlich auch die am wenigsten beachteten. Sie stehen im Schatten der großen und bekannten Vertreter wie Bär und Wolf.
Vielfraße sind sehr seltene und scheue Tiere, die hauptsächlich in wenig besiedelten Regionen Ost- und Nord-Finnlands vorkommen. Um menschliche Ansiedlungen machen sie üblicherweise einen weiten Bogen. Daher geht die Wahrscheinlichkeit, ihnen durch Zufall zu begegnen, gegen Null. In Nordkarelien gibt es aber eine Stelle, wo wir unserem Glück etwas auf die Sprünge helfen können. Ein kleines Schild weist von der ohnehin schon kaum befahrenen Asphaltstraße in den Wald. Und mit jedem Kilometer, den wir dem immer schmaler werdenden Schotterpfad folgen, tauchen wir tiefer ein in die Wildnis Finnlands. Wir wähnen uns fast in einem Märchen, als am Ende der Piste mit einem Male ein Holzhaus inmitten der Kiefern und Birken steht. Wo andernorts Geweihe die Wände schmücken, zieren hier knorrige Verästelungen und Wurzeln die Front der Hütte. Kaum haben wir unseren Dicken abgestellt und sind ausgestiegen, da nehmen wir auch schon eine Bewegung in unseren Augenwinkeln wahr. Beim genaueren Hinschauen entdecken wir Eichhörnchen, die sich kräftig die Backen vollstopfen und neugierig um uns herumspringen. Eines von ihnen schleppt einen Pilz an, der kaum kleiner als der Nager selbst ist, setzt sich nur wenige Schritte vor uns hin und fängt an, genüsslich daran zu knabbern. Wir fühlen uns sofort wohl an diesem Ort, die Ruhe und Abgeschiedenheit üben eine besondere Anziehung auf seine Besucher aus.
Im Osten Finnlands gibt es einige Stellen zur Bärenbeobachtung und auch dort kann es passieren, dass man einen Vielfraß zu Gesicht bekommt. Sie spielen aber eine untergeordnete Rolle. Bei Eero ist es anders, er hat sich vor vielen Jahren auf Vielfraße spezialisiert. Von Zeit zu Zeit streifen auch Bären und Wölfe durch sein Gebiet, aber nirgendwo sonst ist die Wahrscheinlichkeit, Vielfraße in freier Wildbahn beobachten zu können, so hoch wie hier.
Sini, eine junge Finnin, heißt uns willkommen. Sie ist Eeros rechte Hand, der selbst kein Wort Englisch spricht. Überhaupt ist er keiner anderen Sprache als seiner Muttersprache mächtig, und zwei finnische Tierfotografen berichten uns, dass er diese mit einem so breiten Dialekt spricht, dass selbst sie manchmal Mühe haben, ihm zu folgen. Aber oft ist es nicht nötig, alles zu verstehen, mit seiner lustigen und fröhlichen Art erreicht er auch so die Menschen, die sich hierher zu ihm verirren.
Während des Tages verbringen wir die Zeit mit dem Sichten unserer Fotos der ersten Nacht, beobachten die munteren Eichhörnchen, wie sie flink auf den Bäumen herumturnen, und nutzen die kleine Sauna, die etwas abseits im Wald steht. Am frühen Nachmittag geht es auch schon wieder los. Das Versteck, das wir für die zweite Nacht gewählt haben, liegt einige Kilometer entfernt von Eeros Hütte, in sumpfigem Gelände. Abermals beziehen wir Stellung und bereiten unsere Kameras vor. Wie vielerorts ist es dieses Jahr auch in Finnland ungewöhnlich heiß. Wir haben die Wahl zwischen stickiger Hitze in unserem Versteck oder einer großen Schar blutsaugender Gäste, würden wir die knarzende Holztür einen Spalt breit geöffnet lassen. Wir entscheiden uns, lieber zu schwitzen.
Als Sini und Eero fertig sind mit dem Auslegen des Fleisches, winken sie uns zu und verschwinden alsbald aus unserem Sichtfeld. Stunden des Wartens vergehen, die Hoffnung, dass sich diesmal ein Vielfraß im warmen Abendlicht vor unsere Objektive wagt, wird nicht erfüllt. Gegen halb elf, als es endgültig zu dunkel ist, um brauchbare Fotos machen zu können, kriechen wir in unsere Schlafsäcke.
Ein Scharren und Schnuppern reißen mich aus dem Schlaf. Ich schaue nach draußen in die Dunkelheit, wo die näheren Bäume wie Schemen im Blaugrau des Morgens erscheinen. Es ist kurz nach vier. Wieder ein Rascheln und Schnüffeln, und dann sehe ich ihn, keine zwei Meter vor unserem Unterstand streift ein Vielfraß durch das hohe Gras, das ausgelegte Fleisch witternd. Während meine eine Hand an Ruths Schlafsack, so leise wie möglich, aber so energisch wie nötig, rüttelt, erweckt meine andere Hand die Kamera bereits zum Leben. Die ISO-Werte sind noch utopisch hoch, es ist viel zu dunkel zum Fotografieren. Und so konzentrieren wir uns nur auf die Beobachtung des rastlos durchs Gras eilenden Tieres. Es ist auffallend, dass es das frisch ausgelegte Fleisch des letzten Abends zwar genau inspiziert, aber nicht anrührt. Das, was für uns einen unbeschreiblichen Gestank verströmt hat, scheint für den Vielfraß noch zu frisch zu sein. Stattdessen tut er sich gütlich an dem älteren Futter, das dem Geschmack des Aasfressers sehr viel mehr zu entsprechen scheint.
Plötzlich nehmen wir eine Bewegung weiter entfernt im Nebel wahr. Zwei weitere Vielfraße betreten die nur spärlich beleuchtete Bühne. Und als wäre das noch nicht unfassbar genug, gesellen sich noch zwei Artgenossen aus dem linken Waldstück hinzu. Fünf Vielfraße auf einem Haufen, das hat Seltenheitswert. Üblicherweise sind die Tiere Einzelgänger. In kleinen Gruppen sieht man sie meist nur, wenn die Mütter mit ihrem Nachwuchs unterwegs sind. Und genau solch eine Konstellation tummelt sich vor unseren ungläubigen Augen. Einer der jungen Vielfraße weicht nicht von der Seite der Mutter, die sehr aufmerksam die Umgebung absucht, während zwei andere spielend nebeneinander herspringen und sich durchs Gras rollen. Der vierte Spross beschäftigt sich mit jedem Baum, den er im Umkreis der Mutter finden kann. Vielfraße sind sehr gute Kletterer und dieses junge Kerlchen trainiert ausgiebig seine Fähigkeiten. Mit einem Satz springt er ein gutes Stück den Baumstamm empor, klammert sich dann mit seinen Krallen in der Rinde fest. Bevor es weitergeht, schaut er sich zunächst verdutzt um, nicht so recht wissend, was er anstellen soll. Teilweise geschickt, stellenweise aber noch etwas unbeholfen wirken seine Kletterversuche. Aber er gibt nicht auf. Und kaum ist er von einem Baum wieder heruntergesprungen, rennt er schon zum nächsten und der Spaß beginnt von vorne.
Sind das die Tiere, die sich „in unstillbarem Blutdurst wie von Sinnen und alles andere vergessend auf ihre Beute stürzen“? So, wie es noch in der Ausgabe von 1927 in Brehms Tierleben zu lesen steht? Manch ein Rentierhirte würde diese Aussagen vermutlich auch heute noch unterstreichen. Immer wieder wird von deren Seite beklagt, dass Vielfraße ihre Tiere reißen würden. In der Tat ist die stämmige Marderart im Winter in der Lage, Rentiere zu jagen. Vor allem wenn die Schneedecke die Vielfraße dank ihrer großen Pfoten trägt, während ihre Beute tief darin versinkt. Aber dann muss man auch in seine Überlegungen miteinbeziehen, dass es in Finnisch-Lappland derzeit knapp 200 000 Rentiere gibt, denen gegenüber stehen etwa 170 Vielfraße in ganz Finnland, also auch in Regionen, in denen Rentiere nicht vorkommen. Zudem wird jeder Rentierhirte für jedes einzelne Tier, das gerissen oder durch einen Unfall getötet wird, großzügig entschädigt. Aber was zählt das schon, wenn Argumente für die Wiederaufnahme der Bejagung der streng geschützten Tiere benötigt werden? Wie so oft, gibt es auch bei diesem Thema zwei sich scheinbar unvereinbar gegenüberstehende Lager.
Eero hat sich schon vor vielen Jahren auf die Seite der Vielfraße gestellt. Und auf unsere Frage, was die größte Gefahr für die Tiere sei, kommt ohne zu überlegen „Der Mensch!“ kurz und knapp über seine Lippen.
Als wir den kleinen Vielfraßen zuschauen, wie sie ausgelassen miteinander rumtollen, ihre jungen Nasen neugierig ins feuchte Gras stecken und die Tautropfen in ihrem Fell glänzen, fragen wir uns, was das Leben wohl für die jungen Kerlchen bereithält.