Das Licht schwindet zusehends, die Dämmerung hat längst begonnen und mit der Sonne sinkt unsere Zuversicht, jenes seltene Geschöpf zu Gesicht zu bekommen, das hier im Saimaa-Seengebiet noch lebt. Auf denselben Wellen, die das Boot zum Schaukeln bringen, wabern die Spiegelungen der vorüberziehenden Bäume. Und dann, in etwa 300 Metern Entfernung, schimmert etwas auf einem der runden Felsen, die die Gletscher der letzten Eiszeit abgeschliffen haben. Zunächst ist es nur eine vage Vermutung, die sich aber mit jedem Meter, den sich unser Boot den Felsen nähert, mehr und mehr in eine freudige Gewissheit wandelt, dass das, was dort dösend sein Fell trocknet, eine Ringelrobbe ist.

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Im ganzen Saimaa-Gebiet gibt es noch etwa 400 Ringelrobben. Hier im Linnansaari-Nationalpark sind es nur rund 70 Exemplare dieses seltenen und streng geschützten Säugers. Von jeglicher Störung der Tiere muss dringend abgesehen werden, daher nähern wir uns auch nicht weiter mit unserem Boot, auch wenn es für bessere Fotos nötig wäre. Aber es gibt Wichtigeres. Und so beobachten wir die träge auf der Seite liegende Robbe aus der Ferne durch unsere Ferngläser und Teleobjektive. Kurz hebt sie den Kopf und schaut in unsere Richtung, um im nächsten Augenblick wieder zur Seite zu rollen und weiter zu dösen. Um diese Jahreszeit gibt es für die Tiere eigentlich keinen Grund, das Wasser zu verlassen, außer zu ihrem eigenen Wohlbefinden. Unser Glück ist, dass an diesem Abend die Luft wärmer als das Wasser und somit die Möglichkeit gegeben ist, dass doch das ein oder andere Tier auf einem windgeschützten Stein die letzten wärmenden Sonnenstrahlen des Tages genießt. Üblicherweise verbringen die Robben 80 Prozent der Zeit unter Wasser. Die beste Möglichkeit, sie zu sehen, besteht Ende Mai, wenn das Eis schmilzt und sie bevorzugt Felsen in Ufernähe für den Fellwechsel aufsuchen. Färbung und Muster ihres Fells sorgen dafür, dass sie sich kaum von den mit Landkartenflechten überzogenen Steinen abheben und nur schwer zu entdecken sind.

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Die Existenz der Ringelrobbe verrät auch etwas über die Entstehungsgeschichte des größten Sees Finnlands. Der Saimaa-See war einst eine Bucht der Ostsee, die durch die Landhebung nach der letzten Eiszeit abgeschnitten wurde und sich im Laufe der Zeit in einen Süßwassersee verwandelte. Die eingeschlossenen Tiere, darunter auch die geringelten Verwandten des Seehunds, waren gezwungen, sich an die langsam verändernden Bedingungen anzupassen.

Zusammen mit seinen benachbarten, durch natürliche Wasserwege verbundenen Seen, bildet der Saimaa-See die größte Seenplatte Europas, die mehr als 13 000 Inseln umfasst und deren Küstenlinie es durch die vielen verwinkelten Buchten auf beinahe 15 000 Kilometer bringt.

Im Herzen der Finnischen Seenplatte liegt die unter Naturschutz stehende Inselgruppe des Linnansaari-Nationalparks, der eines der letzten Rückzugsgebiete der Ringelrobbe ist. Auch wenn die Bemühungen der letzten Jahre zum Schutz der Tiere zu einer Stabilisierung der Population geführt haben, so stehen sie nach wie vor auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Tierarten. Aber selbst wenn man keine der extrem seltenen Robben zu Gesicht bekommt, bieten sich hier im Linnansaari eine Menge Möglichkeiten für Wanderer und Kanufahrer. Uns begeistern immer wieder die naturbelassenen Wälder, deren Totholz so viel Lebensraum bietet für kleine wie große Tiere. Egal wohin wir schauen, überall raschelt und lebt es. Der Boden ist überzogen vom feuchten Moos, in dem Spinnennetze im Gegenlicht glitzern. Durch die Miniaturwälder aus Farnen und Schachtelhalmen wandern Käfer und führen riesige Straßen von Ameisen. Zwischen den mit Zunderschwämmen überzogenen Birken und Kiefern sprießen vom Tau benetzte Pilze und wachsen Büsche mit reifen Beeren, die hier in Finnland auch bedenkenlos genossen werden können, da der Fuchsbandwurm hier (noch) nicht anzutreffen ist. Über unseren Köpfen springen aufgeregte Eichhörnchen in den Baumkronen umher, und wenn sich der Wald lichtet und den Blick auf ein Gewässer freigibt, sehen wir immer wieder Adlerhorste, über denen Fischadler ihre Kreise ziehen.

Und am Ende einer langen Wanderung genießen wir es, die Wanderschuhe gegen das erfrischende Seewasser einzutauschen.