Vor der großen, etwas salzverkrusteten Scheibe ist es schwarz. Dann schieben sich einzelne Lichter in mein Blickfeld, sie werden immer mehr. Hell erleuchtete Fenstervierecke reihen sich aneinander, eine Hotelfassade glitzert und spiegelt sich im ruhigen Wasser. Und dann ein gewaltiger Dreimaster, wie ein grauer Schatten liegt er im Hafen vor Anker. Jürgen ist neben mir längst eingeschlafen, als wir Travemünde um kurz vor drei hinter uns lassen. Vor uns liegt die Ostsee und an ihrem Nordrand das Land mit den glücklichsten Menschen der Welt.
Bereits zum dritten Mal zieht es uns nach Finnland. Es sind nicht nur die offensichtlichen Dinge, die uns immer wieder an den äußersten Nordostrand der EU aufbrechen lassen: Endlose, teils naturbelassene Wälder, von tiefblauen Flüssen und Seen durchzogen. Wenig Menschen, wenig Autos, dabei ein sehr gutes Straßennetz. Die gute Chance, Bären, Rentiere und Elche in freier Wildbahn beobachten zu können. Es ist auch die Stille, die sich einstellt, wenn jegliche menschengemachte Geräusche abgelöst werden durch das Rauschen der Blätter im Wind und das vielstimmige Vogelzwitschern in den Bäumen. Die entspannte und unaufgeregte Freundlichkeit der Finnen, die das „Schneller, höher, weiter“ der modernen westlichen Welt eingetauscht zu haben scheinen gegen eine ruhige Zufriedenheit, eine Wertschätzung der kleinen Dinge.
Die Stunden der Überfahrt auf der „Finnmaid“ treiben auf dem sonnenbeschienenen Wellenmeer der Ostsee dahin. Das beständige Surren der Schiffsmotoren macht uns ein wenig dösig, wenn wir in unserer Kabine über einem Buch sitzen. Am reichhaltigen Brunch-Buffet, ein kleiner Vorgeschmack auf der Finnen liebste Art zu speisen, gibt es unter vielem anderen Porridge, Fisch in verschiedenen Varianten, Blutwurst (nicht für uns) und natürlich guten schwarzen Kaffee. Und auf dem blau-weißen Oberdeck, dessen einzig abweichender Farbtupfer die orangefarbenen Rettungsringe darstellen, die an der Reling festgemacht sind, zerzaust der Wind unsere Haare, während wir in den Liegestühlen sitzen und aufs Meer hinausschauen. Dabei können Stunden vergehen oder auch nur Minuten, es ist manchmal schwer zu sagen. Und so streifen wir schon all die Hektik unseres normalen Alltags ab, bevor die ersten Schären mit bunten Holzhäuschen oder kleinen Baumgruppen darauf neben dem Schiff den Hafen von Helsinki ankündigen.
Es dauert eine Weile, bis wir so richtig realisieren, dass wir in Finnland sind. Die altbekannten gelben Elchwarnschilder am Straßenrand sind erste Hinweise. So richtig begreifen wir es aber erst, als wir in Savonlinna am Wasser sitzen, ein Eis (lakritsi - Lakritz und päärynä – Birne) in der Hand und vor uns die gewaltige Olavinlinna mit ihren runden Wehrtürmen, eine der am besten erhaltenen mittelalterlichen Burgen Skandinaviens. Im 15. Jahrhundert unter schwedischer Herrschaft erbaut und nach dem heiligen Olof benannt, von den Russen erweitert und wehrhafter gestaltet, thront sie heute über der Promenade. Wir sitzen eine Weile davor, beobachten junge Möwen und Kanadagänse, die am Ufer des Saimaa nach Nahrung suchen, und beschließen, diesem gewaltigen Seen- und Inselsystem, dem größten in ganz Europa, einen längeren Besuch abzustatten.