Etwas ist an mir hängengeblieben. Zieht sich durch meine Sprache mit leicht rollendem „R“ und altvertrauten Worten, die meinen Mann manchmal zum Lachen bringen. Kommt leise und manchmal traurig zum Vorschein beim Betrachten schwarzweißer, ernster Gesichter in dicken Fotoalben. Sitzt mit am Tisch beim Familienbesuch, wenn es Kwetscheknedle mit Kartoffelteig gibt, die meine Urgroßmutter ganz genauso zubereitete, und wir über Geschichten von verkleideten Christkindern und früheren Spielkameraden lachen. Und geistert immer wieder durch meine Erinnerungen, lichtdurchflutet, unbeschwert und ein wenig sentimental. Da ist noch so viel in mir von diesem Ort in der staubigen Banater Tiefebene, in dem ich geboren wurde und die ersten elf Jahre meines Lebens verbringen durfte.

Meine Familie gehört zur Volksgruppe der Banater Schwaben, deren Geschichte geprägt ist von zwei großen Auswanderungswellen. Im 18. Jahrhundert, teilweise auch schon früher, als die heutige Region Banat eine von den Türkenkriegen entvölkerte, von Wäldern durchzogene Sumpflandschaft war, warb die österreichische Krone Siedler, vor allem aus dem süddeutschen Raum und dem Elsass stammend, mit Geld und Land an, manch einen wollte man auch einfach loswerden. Viele brachen von Ulm aus auf, schifften sich auf kleinen Booten, den Ulmer Schachteln, auf der Donau ein und kamen nach einer beschwerlichen Reise in einem Niemandsland an. „Für die ersten der Tod, für die zweiten die Not, für die dritten das Brot.“ Die Neuankömmlinge schleppten nicht nur ihr karges Hab und Gut in die emsig beworbenen Gebiete, sondern auch Seuchen, Hunger und all die Probleme, die immer entstehen, wenn Menschen zusammenleben. Aber da muss auch Kampfgeist gewesen sein und ein stures, zähes Durchhaltevermögen. Die Sümpfe wurden trockengelegt, und zum Vorschein kam fruchtbare Erde, die bis heute das Banat zu einer der Kornkammern Rumäniens macht.  

Wann immer Jürgen und ich in Großsanktnikolaus, oder rumänisch Sânnicolau Mare, sind, ist da dieser blendend helle Sonnenschein, gepaart mit flirrender Hitze – so erscheint es mir wenigstens. Und so war es auch schon in meiner Kindheit. Meine Geburtsstadt steht, so glauben manche, auf einer alten Römerfestung, die Teil des dakischen Limes unter Kaiser Traian war. Die Awaren haben vermutlich im Frühmittelalter auch hier gesiedelt und einen beeindruckenden Goldschatz von etwa 10 kg hinterlassen, den eines Tages im Jahre 1799 ein Bauer beim Graben in seinem Garten entdeckte; heute kann er im Kunsthistorischen Museum in Wien bewundert werden. Nach österreichisch-ungarischer Oberhoheit, der Geburt eines großen Komponisten (Bela Bartok), der Eingliederung zu Rumänien, Enteignungen und Deportationen und einem politischen Umsturz ist Semiklosch, wie meine Familie sie nennt, eine etwas verschlafene Stadt nahe der ungarischen Grenze, die sich mancherorts hübsch herausgeputzt hat, aber doch ihre sozialistische Vergangenheit nicht ganz loswird.

Auf dem schönen Platz vor dem Rathaus, bunt vor lauter Sommerblumen, lädt Bartok dazu ein, sich neben ihn zu setzen. Hinter ihm ragt das kleine Kastell Nako auf, das einmal eine Grafenresidenz war, inzwischen aber, nachdem es die Eiserne Garde, Traktoristenanwärter, Tanzwütige und Fitnessjünger beherbergen durfte, zum Kulturhaus und Museum geworden ist. Dahinter schlängelt sich der Aranka-Kanal durch die Stadt, in meiner Kindheit dank der ortsansässigen Hanffabrik noch der Inbegriff für Schmutz und Gestank. Heute kann man an ihrem Ufer unter Trauerweiden spazieren gehen und den Fischern dabei zusehen, wie sie ihre Angeln auswerfen. Unweit des Kanals ragt der quadratische, gelbe Turm der katholischen Kirche in den blauen Himmel, in der ich vor vielen Jahren als Ministrantin den Gottesdienst einmal nicht ganz so öde fand wie bei den eher seltenen Gelegenheiten, wenn meine Urgroßmutter sich diesbezüglich durchgesetzt hatte, und wir ihn besuchten.

Heute gibt es in Semiklosch noch eine kleine deutsche Gemeinde. Einer von ihnen ist, zumindest zeitweise, Werner Kremm. Er empfängt uns in seinem Elternhaus, tischt frisches Obst auf und wir dürfen auch seinen klaren Selbstgebrannten probieren. Da in der Deutschgemeinde früher fast jeder jeden kannte, erinnert er sich noch gut an meine Mutter, die dank ihres Gesangstalents eine kleine Berühmtheit im Ort war. Werner ist Redakteur bei der ADZ (Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien) und war Anfang der 70er Jahre eines der Gründungsmitglieder der Aktionsgruppe Banat, eines literarischen Zirkels von Schülern und Studenten, dem auch Autoren wie Anton Sterbling, Johann Lippet und Richard Wagner angehörten. Auch die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller entstammt dem Umfeld der Aktionsgruppe-Autoren. Werner hat sehr viel Spannendes zu erzählen, und so verlassen wir ihn einige Stunden später mit einem Haufen Tipps für unsere weitere Reise durch Rumänien und einem Stapel Bücher unter dem Arm.

Eine, die über viele Jahre schon bis heute um die immer weiter schrumpfende Deutschgemeinde in Semiklosch bemüht ist, ist meine Deutschlehrerin aus der fünften Klasse, bei der ich leider nur etwa ein halbes Jahr Unterricht hatte, bevor meine Familie im Frühjahr 1989 Rumänien den Rücken kehrte. Wir sitzen nachmittags in ihrem Garten, der ein einziges buntes Blumenmeer ist, und essen Doboschtorte. So viele Geschichten von früher, von meinen Eltern, mit denen sie zusammengearbeitet hatte, von ihrer Familie, vom Leben heute in Semiklosch. Und in einer davon kommt ein schwarzer gusseiserner Deckel vor, wie ihn nahezu jede Familie hier früher hatte, von dem niemand so genau weiß, woher er eigentlich kommt, der aber schon damals dabei war, als ihre Familie während des Zweiten Weltkriegs gezwungen war, aus ihrer Heimat zu flüchten.

Auch um den alten deutschen Friedhof kümmert sie sich. Da die kleine Dame, an die ich mich noch aus meiner Kindheit erinnern kann, die sich zusammen mit ihrer Familie um die Pflege der Gräber gekümmert hatte, vor kurzem verstorben, und von ihren Angehörigen auch sonst niemand mehr da ist, droht der Friedhof weiter zu verwildern. Viele der Grabsteine, von denen die ältesten noch aus dem 19. Jahrhundert datieren, sind schon seit Jahrzehnten umgefallen, manche Inschrift ist kaum noch lesbar. Die Nachfahren der hier Begrabenen sind längst nicht mehr in Rumänien; die meisten von ihnen stellten in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts offizielle Ausreiseanträge in Richtung Deutschland oder flohen auf die eine oder andere Weise aus dem sozialistischen Rumänien. Und so sind die Banater Schwaben heute weit verstreut, die meisten in Deutschland. Erst kürzlich hat ein heftiger Sturm, der über Semiklosch hinwegfegte, mehrere der schweren Marmorsteine auf dem alten Friedhof umgeworfen und zerbersten lassen. Vielleicht wird sie jemand aufrichten und wieder zusammensetzen, aber bei mir bleibt bei jedem Besuch an diesem Ort das traurige Gefühl zurück, dass sie nur letzte Überbleibsel einer Zeit, einer Kultur und einer Volksgruppe sind, die es heute nicht mehr wirklich gibt, nur noch in Büchern, auf alten Fotos und in sorgsam gehüteten Erinnerungen.

Und manchmal tut es gut, durch diese Erinnerungen zu wandern. Wie wir es in Tschanad tun (rum. Cenad), jenem kleinen Dorf am westlichsten Rand Rumäniens, in dem mein Vater geboren wurde. Wir wohnen im Haus meiner Großeltern, zumindest fast, denn direkt daran angebaut hat der ehemalige Polizeichef das nach den Kirchen vermutlich höchste Gebäude in Tschanad: Eine Pension, die mit ihrem gläsernen Treppenhaus und den straßenseitigen Balkonen irgendwie zu groß gedacht ist für das kleine Dorf. Ein solches war es nicht immer, von der Römerfestung bis zu einem Bischofssitz hat der heutige Grenzort zu Ungarn eine wechselvolle Geschichte. Die Dorfgassen haben sich seit meiner Kindheit wenig verändert. Am Ende eines dieser staubigen Wege scheint uns das Rufen einer Pute genau zum richtigen Haus zu führen. Zu dem meines Ururgroßvaters, der sich in den Wirren des letzten Weltkriegs, damals schon um die 70 Jahre alt, dazu entschloss, dieses Haus allein zu hüten, während der Rest der Familie Richtung Deutschland floh. Wer die Männer waren, die ihn in dieser Gasse halbtot geprügelt haben, wurde offiziell nie herausgefunden, aber zwei Wochen nach dem Angriff erlag er seinen Verletzungen.

Wie Schichten liegen diese weit zurückliegenden Ereignisse unter der jetzt erfahrbaren Realität. Ein Freund von mir hat vor kurzem, als ich ihm von meinen Reiseerlebnissen berichtete, gesagt: „Fühlt sich bestimmt so an, als ob man ein persönliches Buch liest und plötzlich halb drin ist.“ Genau so ist es, heute durch Semiklosch und Tschanad zu streifen auf der Suche nach Erinnerungen und diesem Gefühl aus meiner Kindheit, lichtdurchflutet, unbeschwert und ein wenig sentimental.