Wir waren doch recht erstaunt, als wir auf unseren Schrittzähler geschaut haben und er uns anzeigte, dass wir in der einen Woche, die wir in Wien verbracht haben, gute 86 Kilometer zu Fuß kreuz und quer durch die Stadt zurückgelegt haben. Es muss daran liegen, dass es in Österreichs Hauptstadt einfach unglaublich viel zu sehen gibt, und dass man als Besucher eigentlich nie genug Zeit haben kann, um alles auf sich wirken zu lassen und besuchen zu können.

Eine Reise nach Wien ist für uns immer etwas ganz Besonderes, da an diese Stadt auch ein guter Teil der persönlichen Familiengeschichte geknüpft ist. In den Wirren, die das Ende des Zweiten Weltkriegs mit sich brachte, musste meine Oma mit ihrem gerade einmal vier Jahre alten Bub nach Wien fliehen. Mein Vater erlebte hier seine Einschulung und verbindet bis heute schöne und weniger gute Erinnerungen an diese entbehrungsreiche Zeit. Umso glücklicher bin ich, dass Ruth und ich diese Tour gemeinsam mit meinen Eltern machen dürfen.

 

Wir übernachten in einem kleinen Hotel, in dem mein Vater und ich vor 30 Jahren eine Lebensmittelvergiftung auskuriert hatten, die damals ein Mitbringsel aus Ägypten gewesen war. Eben jenes kleine Hotel ist diesmal Ausgangspunkt für unsere täglichen Unternehmungen, von denen wir hier ein paar zeigen wollen.

Nicht fehlen dürfen natürlich die beiden großen Museen, die sich Auge in Auge gegenüberstehen und die zwei nicht zu überschätzende Sammlungen beherbergen. Das eine, das Naturhistorische Museum, begeisterte mich schon als Kind. Staunend stand ich unter den riesigen Skeletten der Saurier, die sich über mir bis unter die Decken der hohen Säle erhoben, fasziniert drückte ich meine Nase an den Scheiben der Vitrinen mit den teils über hundert Jahre alten Präparaten von Löwen, Bären und Krokodilen platt und maß mit meinen kleinen Kinderschritten das Skelett eines Blauwals ab. Am Ende eines jeden Besuchs bekam ich ein detailliertes Modell eines Sauriers und konnte sehr bald alle Namen der Dinosaurier auswendig, lange bevor ich lesen konnte.

In vielen Räumen des Museums scheint die Zeit stehengeblieben zu sein, stehen die Exponate noch an genau denselben Stellen wie damals, in anderen Abteilungen hat sich hingegen viel verändert. Neben den Knochen der Saurier bewegt sich heute ein voll elektronisches, lebensechtes Modell eines Allosaurus und in einigen Abteilungen wird vermehrt auf wichtige Themen wie den Klimawandel und die Umweltbelastung durch den Menschen eingegangen. In jedem Fall hat das Museum nichts von seiner Faszination eingebüßt, egal ob man als Kind oder als Erwachsener durch die Gänge und Säle streift. Jeder Raum offenbart ein neues, kleines Universum an Kuriositäten, ist prall gefüllt mit Wissen. Tausende Insekten, Vögel, Fische, Säugetiere von groß bis klein, Ameisen- und Bienenkolonien, Mineralien, Meteoriten - alles zeigt, wie besonders unser Planet ist und wie sehr es sich lohnt, gut auf ihn aufzupassen.

Ein Tag ist bei Weitem nicht genug, um auch nur ansatzweise die Fülle an Informationen und Exponaten zu erfassen, die das Museum zu bieten hat. Locker könnten wir alleine hier eine ganze Woche verbringen, ohne auch nur einen Moment der Langeweile zu verspüren.

Ebenso verhält es sich mit dem Kunsthistorischen Museum, direkt gegenüber. Auch hier bräuchten wir einige Tage, um allen Abteilungen die verdiente Aufmerksamkeit widmen zu können. Für mich als Kind stand früher das Kunsthistorische Museum stets im Schatten des Naturhistorischen Museums, und ich verspürte nie dieselbe Begeisterung beim Hinaufsteigen der Treppen hin zum Eingang. Heute ist es anders, mit mehr Wissen, weiter gefassten Interessen und Erfahrungen, die wir unterwegs auf Reisen und auch zu Hause gesammelt haben, sagen und bedeuten uns die Gemälde sehr viel mehr, als sie das für ein Kind könnten.

Beim Gang durch Wien werden wir immer begleitet von einer Unmenge an Details. Von jeder Fassade schauen uns Figuren und Gesichter entgegen, jede Fensterlaibung ist verziert, kaum eine Wandfläche scheint ohne irgendeine Art Schmuck auszukommen. Wir haben schon von manchen Wienern gehört, dass die Stadt den Menschen die Kraft aussauge. Als flüchtige Besucher können wir das nicht bestätigen. Wir strotzen vor Energie, wandern uns die Füße wund, immer noch ein Stück weiter, hin zum nächsten Schmankerl. Wir hatten befürchtet, dass es ähnlich überlaufen sein würde wie Prag bei unserem letzten Besuch, aber diese Sorge war glücklicherweise völlig unbegründet. Selbst an den markanten Orten, die bei keinem Besuch Wiens fehlen dürfen, wie dem Stephansdom, der Schatzkammer, der Hofburg, Schönbrunn und Belvedere, ist es angenehm leer.

Die Hitze, die während unseres Aufenthalts in der Stadt herrscht, zwingt uns regelmäßig dazu, für eine kleine Erfrischung eines der netten Kaffeehäuser oder eine Bar aufzusuchen. Und überall werden unsere Impfzertifikate kontrolliert. Eine Gewissenhaftigkeit, die wir uns auch in anderen Ländern wünschen würden. Der Vergleich der Sachertorte zwischen dem Café Demel und dem Sacher fällt relativ einstimmig und eindeutig zu Gunsten des Café Sacher aus. Ausschlaggebend ist nicht unbedingt der eigentliche Kuchen, sondern vielmehr die Atmosphäre und die Freundlichkeit des Personals. Und ein unschlagbares Argument sind natürlich die Bären, die im Sacher sowohl die Porzellanteller zieren als auch als Plüschversionen in Sacher-Uniformen überall herumsitzen. Sehr wohl fühlen wir uns auch auf der Terrasse des berühmten Café Landtmann, auf der nicht nur der schöne Blick auf das Burgtheater, sondern auch die einmalig leckeren Landtmann-Kugeln genossen werden können.

Den Heldenplatz zieren zwei Reiterstandbilder. Das eine zeigt Prinz Eugen, das andere Erzherzog Karl. Beim Letzteren erklärten mir schon früher meine Eltern, handelt es sich um etwas ganz Besonderes, denn dem damaligen Bildhauer Anton Dominik Fernkorn war hier eine statische Meisterleistung gelungen. Es war das erste monumentale Bronzestandbild, das sich nur auf zwei Punkte, nämlich die Hinterläufe des Pferdes, stützt. Die Begeisterung war damals riesig, der Künstler wurde dafür gefeiert und geadelt und zerbrach letztlich am Druck, den er daraufhin beim Erstellen des zweiten Reiterstandbilds verspürte. Es gelang ihm nicht, seinen Geniestreich zu wiederholen. Beim Standbild Prinz Eugens musste der Pferdeschwanz zum Abstützen zu Hilfe genommen werden. Körperlich und psychisch nahm das Fernkorn so mit, dass er sich noch vor Fertigstellung der Statue in ärztliche Behandlung begeben musste und den Rest seines Lebens in einer psychiatrischen Einrichtung verbrachte.

Unweit des Heldenplatzes tauchen wir ein in eine Welt aus unschätzbar wertvollem Wissen auf altem Papier. Der Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek beeindruckt mit barocken Fresken und Statuen, aber vor allem mit den über 200 000 Büchern und Folianten seiner Sammlung in hoch aufragenden Regalen. Am liebsten würden wir manch eines in die Hand nehmen und darin blättern, was seit einiger Zeit immerhin am Rechner möglich ist, da die gesamte Sammlung inzwischen digitalisiert ist. Vier gewaltige venezianische Globen, die die Erdkugel beziehungsweise den Sternenhimmel zeigen, versetzen uns endgültig in eine andere Zeit. Manche der Bände stammen noch aus dem frühen 16. Jahrhundert, und viele von ihnen lagerten an unterschiedlichen Plätzen, bevor ihnen im 18. Jahrhundert diese besondere Bibliothek gebaut wurde.

Aus der gleichen Zeit stammt auch die monumentale Karlskirche jenseits der Ringstraße. Die beiden gewaltigen Säulen, die das Portal links und rechts begrenzen, erinnern stark an die Traianssäule in Rom und verleihen dem Gotteshaus ein ganz außergewöhnliches Erscheinungsbild. Im kleinen künstlichen See direkt davor konkurriert die Spiegelung der Kirche mit der einzigen Henry Moore-Plastik in Wien.

Den Naschmarkt wollen wir auch auf keinen Fall auslassen. Also schieben wir uns auf der Wienzeile durch eine lange Reihe von kleinen Restaurants, die Spezialitäten aus aller Herren Länder anbieten, und anschließend vorbei an einem Marktstand nach dem anderen, deren Tische sich biegen unter frischem Gemüse und Obst und Süßigkeiten. Da Samstag ist, wollen wir auf dem kleinen Flohmarkt, der sich an den eigentlichen Markt anschließt, herumstöbern. Manchmal hebt sich dabei mein Blick von altem Porzellan, verschlissenen Ölbildern und Dachbodenfunden und fällt auf die schönen Jugendstilfassaden, die noch so manches Haus der Linken Wienzeile zieren. Dieser besonderen kunstgeschichtlichen Epoche aus dem Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert begegnen wir immer wieder in Wien. Sei es direkt am Eingang zum Naschmarkt, wo das Secessionsgebäude leuchtend weiß und golden in den Himmel ragt, oder auch beim Bummel durch die Einkaufsstraßen rund um den Stephansdom, wo die blau-goldenen Engel der gleichnamigen Apotheke aus dem Einerlei der Geschäftsfassaden herausragen. Fündig werden wir auf dem Flohmarkt schließlich auch noch: Zwischen alten Kristallvasen und bunten Gläsern entdecken wir an einem Stand einen kleinen weißen Bären aus Biskuitporzellan, auf dessen Unterseite sich die berühmten blauen Schwerter kreuzen. Nach kurzem Handeln wird er neuestes Mitglied unserer Bärensammlung.

Nachdem die Corona-Pandemie unsere Reisepläne nachhaltig durcheinandergebracht hatte, stellt die Woche in Wien auch so etwas wie einen Startschuss für unsere weiteren Reisen dar. Es war uns wichtig, vollständig geimpft zu sein, bevor wir zu neuen Unternehmungen aufbrechen. Denn für uns hat es etwas mit Respekt und Verantwortung den Menschen gegenüber zu tun, denen wir zu Hause und unterwegs begegnen, dass wir uns und sie so gut es geht schützen.

Und so packen wir unseren „Dicken“ und brechen für die kommenden eineinhalb Monate auf in Richtung Rumänien.